Spiros Simitis
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Ansprache zum Auftaktsemester
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Eröffnung der Veranstaltungsreihe „Kritische Analysen der internationalen Entwicklungszusammenarbeit“ mit einem Vortrag von Klaus Töpfer zum Thema „Nachhaltige Entwicklung. Die Friedenspolitik der Gegenwart und der Zukunft“
28. April 2009
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Meine Damen und Herren,
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ich freue mich, Sie hier zu sehen, an einem so wichtigen und so lange erwarteten Tag.
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Auf den ersten Blick holt die Universität nur nach, was für die Naturwissenschaften mit der Einrichtung des Frankfurt Institute for Advanced Studies (FIAS) bereits vor längerer Zeit geschehen ist. Um Missverständnisse gar nicht erst aufkommen zu lassen, füge ich gleich hinzu: Mit dem Forschungskolleg ist nicht etwa nur eine Parallelinstitution zum FIAS entstanden. Gewiss haben beide ihre spezifischen Interessengebiete. Ebenso klar ist allerdings auch, dass es durchaus gemeinsame Reflexionsbereiche gibt, die gerade gegenwärtig mit im Zentrum ebenso gemeinsamer Fragestellungen stehen. Ich erinnere nur an die Stammzellenforschung, die genetischen Steuerungsmöglichkeiten oder die immer größere Rolle prädiktiver Analysen im Rahmen einer mehr und mehr auf Vorbeugung bedachten Sozialpolitik.
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Und noch ein Zweites drängt sich sofort auf ? die Chance, das Forschungskolleg vor dem Hintergrund und in Zusammenarbeit mit einer Stiftung einzurichten, die im Bereich der Humanwissenschaften wie kaum eine andere Institution über Jahre wieder und wieder Anregungen für die humanwissenschaftliche Forschung vermittelt hat: die Werner Reimers Stiftung.
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Doch so wichtig beides ist, gibt es noch einen dritten Punkt, der dem heutigen Tag einen ganz besonderen Akzent verleiht: Die Universität kehrt mit der Forschungsstelle zur eigenen Tradition zurück. An zwei, zeitlich deutlich voneinander getrennten Beispielen möchte ich das verdeutlichen.
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Das erste weist auf die 1920er Jahre zurück. Mit der Entscheidung, eine Professur für Soziologie vor nahezu allen anderen deutschen Universitäten einzurichten, war die Wahl auf ein Fach gefallen, das seiner ganzen Struktur und Ambition nach traditionelle Disziplin-grenzen in Frage stellt und damit zugleich einer dezidiert interdisziplinären Zusammenarbeit den Weg bahnt. Und in der Tat: Max Horkheimer hat sich seinerzeit sehr bald und durchaus erfolgreich für eine mit dem Soziologie-Institut verbundene, mit Karl Landauer besetzte Professur für Psychoanalyse ausgesprochen, so aber auch die Voraussetzungen einer sich bis heute auswirkenden interdisziplinären Kooperation geschaffen.
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Eben diese Erfahrung wiederholte und bestätigte sich, als Frankfurter Juristen, Psychoanalytiker und Soziologen Mitte der 1970er Jahre das Fundament für ein verändertes Verständnis des Kindeswohls legten. Wiederum wurden die Disziplingrenzen bewusst durchbrochen und einmal mehr ein Reflexionsansatz gewählt und ausgebaut, der Kindesentwicklung interdisziplinär an den spezifischen Kindesinteressen misst sowie zugleich als verbindlichen Orientierungs- und Handlungsansatz versteht.
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Das Forschungskolleg greift also Frankfurter Tradition auf, stellt sie jedoch auf eine sehr viel breitere, keineswegs auf bestimmte Disziplinen beschränkte Grundlage. Interdisziplinarität ist infolgedessen Maßstab und Ziel aller Aktivitäten der Forschungsstelle. Sie hält sich bewusst nicht an scheinbar „wesensbedingte“ und daher „unweigerlich“ verbindliche Grenzen einzelner Disziplinen, weigert sich, sich einem von deren Vorstellungen diktierten Reflexionsprozess widerspruchslos zu fügen und betrachtet den interdisziplinären Diskurs als eine permanente Herausforderung, Postulate nicht unbesehen hinzunehmen, welche allein aus dem Blickwinkel einer einzelnen Disziplin formuliert werden.
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Interdisziplinarität ist, anders und pointierter ausgedrückt, institutionalisierte, ebenso kritische wie kreative Unruhe, die nicht nur die je spezifischen Humanwissenschaften in ihren sozialen Kontext zurückversetzt, vielmehr auch und gerade einen Reflexionsaustausch anstrebt, der, um noch einmal daran zu erinnern, die Naturwissenschaften einbezieht und ? wie noch vor wenigen Tagen bei der Bestimmung der Aufgaben des neu gegründeten französischen Haut Conseil des Biotechnologies nachdrücklich betont wurde ? mit ihnen Antworten auf so zentrale Fragen sucht, wie sie heute die Biowissenschaften aufwerfen.
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Interdisziplinarität kann freilich diesen Ansprüchen nur solange genügen, wie sie sich konsequent jener nach wie vor weit verbreiteten, zuweilen sogar dominierenden „culture du résultat“ verweigert, um bei meiner Anlehnung an die französische Debatte zu bleiben. Die Fähigkeit interdisziplinärer Ansätze, Reflexion anzuregen sowie kritisch zu begleiten, verträgt sich nicht mit einem wie immer begründeten Anwendungskult, der ? gleichviel, ob man es zugibt oder nicht ? Auswahl und Ziel der Reflexionsgegenstände und Reflexionsziele bestimmt. Das Forschungskolleg bietet sich folglich als Diskussions- und Forschungsort keineswegs erst für Projekte an, die messbare und umsetzbare Anwendungserfolge versprechen. Entscheidend ist allein die Chance, den Diskurs mit neuen Fragestellungen zu konfrontieren und fortzusetzen.
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Wie sehr es genau darauf ankommt, zeigt sich gerade vor dem Hintergrund der scheinbar eindeutigen, mittlerweile immer zweifelhafteren Rationalität etlicher der weltweit akzeptierten Evaluationsverfahren, und zwar besonders dann, wenn Sozial- und Geisteswissenschaften auf dem Spiel stehen, angefangen bei der Shanghai-Universitätsliste bis hin zum vielgepriesenen Hirsch-Faktor. Ein systematisches „salami-slicing“ ? also die bewusste Zerstückelung einzelner Arbeiten und die nicht minder zielstrebige Unterbringung in den „angesehensten“ wissenschaftlichen Zeitschriften ? sowie erst recht die Einsicht, dass ein polemisch zugespitzter Aufsatz ein Höchstmaß an Zitierungen sichert und so auch ein Maximum an Punkten einbringt, illustrieren und begründen die Zweifel deutlich genug.
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Unser Arbeitsprogramm hat gegenwärtig drei Ansätze:
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Das Forschungskolleg bietet, erstens, die Möglichkeit, einzelne Projekte für einen Zeitraum von grundsätzlich zwei Jahren durchzuführen, hier also zu arbeiten, miteinander zu debattieren, aber auch mit eigens eingeladenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Frage nach der Schlüssigkeit der eigenen Prämissen und Resultate nachzugehen. Exemplarisch dafür ist das Normenprojekt. Behandelt werden besondere Aspekte der „Herausbildung normativer Ordnungen“, die Teil des entsprechenden Exzellenzclusters der Frankfurter Universität sind.
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Das Forschungskolleg will, zweitens, in bis zu vier, in der Regel mit kurzen Seminaren verbundenen Vorträgen aktuelle Probleme ansprechen, ihre entscheidenden Komponenten analysieren und so zugleich versuchen, die Akzente künftiger Debatten zu definieren. Der heutige Vortrag ist der erste Teil einer Serie, die sich mit einer lange Zeit von der evidenten Missachtung historischer, sozialer sowie umweltspezifischer Faktoren geprägten Entwicklungspolitik auseinandersetzen wird. Essentiell politik- und wirtschaftswissen-schaftliche Ansätze und Überlegungen, die vor allem auf den Erfahrungen der Weltbank beruhen, stehen im Mittelpunkt der beiden nächsten Vorträge. Den Abschluss soll ein Gespräch mit Wissenschaftlern aus Afrika, Asien und Lateinamerika bilden.
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Das Forschungskolleg möchte, schließlich, Hintergrund und Tragweite von Kontroversen, die gegenwärtig ? wie bei den erst jüngst nachdrücklich geforderten Grenzen öffentlicher Diskurse über Forschungsverlauf und Forschungsziele ? eine zentrale Rolle spielen, in einzelnen Streitgesprächen aufnehmen.
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Nun aber zu unserer heutigen Veranstaltung und noch genauer zu unserem ersten Gast.
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Ihn mit dem üblichen biographischen Exkurs vorzustellen, scheint mir ebenso überflüssig wie unangebracht zu sein. Stattdessen möchte ich auf eine seiner Eigenschaften hinweisen, die mich jedenfalls von Anfang an ungemein beeindruckt hat, seine Nachdenklichkeit.
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Sie war es, die ihn schon Ende der 1970er Jahre veranlasste, sich zunächst als Staatssekretär und Minister in Rheinland-Pfalz und später als Bundesminister ganz dem Umweltschutz zu widmen, in einer Zeit also, in der das Verhältnis der Politik zum Umweltschutz überaus gespalten war und Institutionen, wie die eigens dafür geschaffenen Ministerien, von der kaum verhüllten Hoffnung auf ihr baldiges, diesmal endgültiges Scheitern begleitet wurden. Seine Nachdenklichkeit war es, die ihn ebenfalls dazu brachte, sich Ende der 1990er Jahre bereit zu finden, das alles andere als einfache Amt des Exekutiv-Direktors des Umweltprogramms der Vereinten Nationen bis 2006 zu übernehmen. Und seine Nachdenklichkeit kehrt genauso in seiner Entscheidung wieder, das neue gegründete, in Potsdam angesiedelte Institut für Klimawandel, Erdsystem und Nachhaltigkeit zu leiten, zu dessen Forschungsschwerpunkten neben dem Klimawandel auch und vor allem die nachhaltige Ökonomie zählt.
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Kurzum, besser als mit ihm könnte unsere Arbeit nicht anfangen. Dafür, dass er sich ebenso freundlich wie spontan dazu bereit erklärt hat zu kommen, möchte ich ihm herzlich danken und ihm zugleich das Wort geben.
(FKH - 22.06.2009)
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